AKTUELLES

Kulturheilkunde: Die andere Seite der Naturheilkunde

Existenz und Berechtigung der Naturheilkunde sind von Politik und Gesellschaft anerkannt und finden Ausdruck in der Zusatzbezeichnung Naturheilverfahren, die von den Ärztekammern verliehen wird. Der Begriff Kulturheilkunde hingegen ist noch unbekannt, obwohl er durchaus eine Vorgeschichte hat und Konsens darüber besteht, dass auch kulturelle Aspekte Einfluss auf Krankheit und Gesundheit sowie Heilung haben. So sind in den letzten Jahren weltweit Initiativen unter dem Motto „Kultur heilt“ entstanden, wobei die Kampagne „Kultur auf Rezept“ der Ärztekammer der finnischen Stadt Turku einen vorläufigen Höhepunkt bildete.

Der Grundgedanke der Kulturheilkunde ist eng mit dem Konzept der Selbstheilung bzw. dem Begriff des „inneren Heilers“ verbunden. Nach dieser Vorstellung heilt nicht der Arzt, sondern die Natur. Der Arzt und die Heilkunst sowie die Kultur geben der Selbstheilung Anstöße und bilden den Rahmen für heil und ganz sein. In diesem Prozess führt Kulturheilkunde Patienten (nicht zuletzt über eine Anpassung des Lebensstils und die Art und Weise des Miteinanders) in die Selbstwirksamkeit und macht sie zum Protagonisten ihrer eigenen Heilung. Anspruch der Kulturheilkunde ist es somit, wieder mehr Geist in die Medizin zu bringen und zu einer Wegbereiterin einer Heilkunde des Bewusstseins zu werden. Kulturheilkunde versteht sich als eine wichtige und notwendige Ergänzung der Naturheilkunde bzw. als die andere Seite der Naturheilkunde. Wie bei einer Münze gehören beide Seiten untrennbar zusammen.

Kulturheilkunde geht von einem Menschenbild aus, das Menschen nicht auf den bloßen Körper reduziert, sondern als komplexe Wesen in einem Körper mit Geist und Bewusstsein sieht, die gleichzeitig Natur- und Kulturwesen sind. Durch ihr Bewusstsein und ihren Geist sind Menschen dazu in der Lage ihre Umwelt gezielt zu gestalten und Kultur zu schaffen, womit sie über ihre eigene Natur hinausgehen und sich selber kultivieren. Dies eröffnet Menschen neue Wirkmöglichkeiten und gibt ihnen eine gewisse Vormachtstellung im Reich der Natur, was allerdings Fluch und Segen zugleich sein kann. Menschen können sich in einem bestimmten Rahmen dank ihrer kulturellen Entwicklung zwar selber heilen, aber sie können sich über ihr Bewusstsein und ihren Geist auch selber krank machen.

Bewusstsein, Geist und Kultur sind von allergrößter Bedeutung für die Gesundheit und Heilung des Menschen. Der Begriff Kultur meint dabei all das, was Menschen durch ihre Tätigkeit und durch ihr Denken hervorbringen und gezielt weitergeben sowie vorausschauend und reflektiert bewahren, indem sie die Natur (das Äußere) sowie sich selbst (das Innere) für bestimmte Zwecke bearbeiten. Die Natur bearbeiten Menschen mit Werkzeugen, die sie selbst produzieren. Sich selbst bearbeiten sie durch die Produktion von Wissen und Kompetenz sowie die Beschäftigung mit Sinn und dem Transzendenten.

Heilkunde beginnt in der Geschichte der Menschheit in dem Moment, wo der Mensch Kulturwesen wird. Heilkunde und Kultur sind damit untrennbar miteinander verbunden. Heilung setzt einerseits im Äußeren an: durch die Bearbeitung von Umgebung und Umwelt sowie das Erschaffen von Artefakten als Heilmittel. Andererseits knüpft sie im Inneren an und setzt auf eine Selbstkultivierung des Menschen. Heilung wird demnach nicht gemacht, sondern sie geschieht, sie ist im Verständnis der Kulturheilkunde:

• das Zulassen der inneren Kraft der Selbstheilung (der „innere Arzt“ bzw. die Natur heilt)
• in einem Feld der Passung und Resonanz zwischen dem kranken Menschen, dem Therapeuten und den Wirkmitteln
• auf dem Boden einer unterstützenden Umgebung (Kultur, Soziales) und Umwelt (Natur)
• Die Heilkunst gibt dabei Anstöße und stellt einen förderlichen Rahmen
• Therapeuten sind in diesem Prozess Begleiter und Geburtshelfer

 

Für die Kulturheilkunde spielt es keine Rolle, ob die bevorzugten Wirkmittel aus der konventionellen Medizin oder aus der komplementären Medizin stammen. Kulturheilkunde verbindet das Sinnvolle der Schulmedizin und eine wissenschaftlich fundierte Naturheilkunde miteinander. Beide ergänzt sie durch einen kulturellen Rahmen (Musik, Kunst und Literatur) und die Schaffung einer heilsamen Umgebung, durch künstlerische Therapien, die Einbeziehung der verschiedenen Heilkulturen (der traditionellen Medizinsysteme) und eine hohe interkulturelle Kompetenz (angesichts von Globalisierungsprozessen und zunehmender kultureller Diversität) sowie – nicht zuletzt – durch das liebevolle Gespräch und die Offenheit für spirituelle Fragen.

Kulturheilkunde setzt also nicht in der Modifikation der spezifischen Methode, sondern in der Modifikation der Heilkultur an. Dabei geht es nicht darum, ob Heilverfahren der Schulmedizin oder der Alternativmedizin besser oder schlechter sind, sondern es geht um eine Veränderung der Haltung. Kulturheilkunde hilft damit auch, den Graben zwischen den Blöcken in der gegenwärtigen Medizin im Interesse des kranken Menschen zu heilen.